Wenig Licht, viel Schatten
in der Region „Europa“ dreißig Jahre nach der Weltfrauenkonferenz
Von Silke Steinhilber
Der dreißigste Jahrestag der vierten Weltfrauenkonferenz gibt Anlass zu gleichstellungspolitischen Bestandsaufnahmen auf nationaler, regionaler und globaler Ebene. Die Commission on the Status of Women im März 2025 wird das zentrale globale Forum zur Überprüfung der Erfolge und Herausforderungen sein; die entsprechenden Regionalkonferenzen haben in allen Weltregionen mittlerweile stattgefunden (in der Region Europa im Oktober 2024) und die nationalen Berichte sowie viele zivilgesellschaftliche „Schattenberichte“ sind veröffentlicht.
Die Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 war ein Meilenstein für Frauenrechte und Gleichstellungspolitik. Auf ihr verabschiedeten 189 Staaten die Aktionsplattform von Peking (Platform for Action, PfA), in der gleichstellungspolitische Maßnahmen in 12 Aktionsfeldern zusammengefasst sind. Die Plattform will die „Herbeiführung der Machtgleichstellung der Frau“ erreichen. Ihr Ziel ist es, „(…) alle Hindernisse zu beseitigen, die der aktiven Teilhabe der Frau an allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens entgegenstehen, indem ihre volle und gleichberechtigte Mitwirkung an den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entscheidungsprozessen sichergestellt [wird].“ Seit 1995 gibt es alle fünf Jahre regionale und globale Überprüfungskonferenzen, zu denen unterzeichnende Staaten Berichte erstellen und für die auch die Zivilgesellschaft die Umsetzung der Aktionsplattform kritisch kommentiert.
Die Region „Europa“ der UN ist äußerst heterogen zusammengewürfelt, reicht sie doch von den Mitgliedsstaaten der EU über den Balkan, die Ukraine und die Russische Föderation bis hin zu den zentralasiatischen Ländern. Entsprechend divers sind die Berichte, sowohl was die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen als auch die thematische Schwerpunktsetzung und die Faktendichte der Berichte angeht. (Auch Kanada, USA und Israel gehören zur ECE-Region, allerdings hat dieses Mal nur Kanada einen Bericht formuliert.) In nationalen Berichten an internationale Organisationen sind Regierungen außerdem immer geneigt, in einem guten Licht dastehen zu wollen – auch wenn Erfolg oder Scheitern keine direkten Konsequenzen im Überprüfungsprozess haben. Die Länder sind zwar eingeladen, alle Fragen für die Überprüfung zu beantworten, können aber natürlich eigene Schwerpunkte setzen.
Die meisten Länder in der ECE-Region berichten, dass sie in der Gleichstellungspolitik besonderes Gewicht auf Maßnahmen in drei Bereichen der Aktionsplattform legen: Geschlechtsspezifische Gewalt, zweitens wirtschaftliche Rechte bzw. wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen und drittens politische Beteiligung und Repräsentation. Bei genauem Hinschauen und interpretierendem Lesen zeigen sich darüber hinaus weitere regionale Gemeinsamkeiten und Trends, auch wenn die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sich innerhalb Europas stark unterscheiden.
Kontext: multiple Krisen und politischer Backlash
Alle Berichte betonen die Auswirkungen der multiplen globalen Krisen der letzten Jahre auf die Umsetzung der Aktionsplattform in der Region, insbesondere die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, Inflation- und Energiekrise. Die Einschränkung der haushaltspolitischen Spielräume für Gleichstellungspolitik werden von einigen Ländern explizit mit den Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine und einer budgetären Schwerpunktsetzung auf Militär und Sicherheit begründet. (Die Formulierungen im Hinblick auf die Konsequenzen des russischen Angriffs auf die Ukraine unterscheiden sich natürlich erheblich je nach Position einzelner Länder gegenüber dem Konflikt.) Doch auch wo dieser Zusammenhang weniger klar beschrieben wird, wird ein verbreiteter anti-sozialpolitischer Spardiskurs in vielen Länderberichten sichtbar, der ein wenig förderliches Umfeld für gleichstellungspolitische Maßnahmen bildet.
Mehr oder weniger deutlich zeigt sich in sehr vielen Länderberichten der mangelnde politische Wille von Regierungen, ernsthafte, effektive, oder innovative, Gleichstellungspolitik zu verfolgen. Konservative Geschlechterdiskurse durchdringen eine Vielzahl der Berichte: Beispielsweise werden häufig Maßnahmen aus dem Feld der Familienpolitik als Gleichstellungspolitik präsentiert, ohne jedoch eine notwendige gleichstellungspolitische Einordnung vorzunehmen: Das Schaffen von Kinderbetreuungsmöglichkeiten wird selbstverständlich als im Interesse aller Frauen einsortiert, statt die Notwendigkeit einer Transformation von Geschlechterrollen gleichermaßen zu betonen. Auch demographische Entwicklungen, konkret die sinkenden Geburtenraten bzw. Maßnahmen, die angeblich zu einer Steigerung der Geburtenraten führen sollen, nehmen einen erheblichen Raum in vielen Länderberichten ein – ohne dass deutlich wird, welche Demographiepolitik im Interesse von Frauenrechten ist.
Eine positive Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist, dass eine wachsende Zahl der Berichte ein Verständnis für die intersektionale Verflechtung unterschiedlicher Diskriminierungsgründe spiegeln. Hauptsächlich in Bezug auf nationale und ethnische Herkunft und Alter (sowohl bezogen auf Mädchen als auch ältere Frauen) finden sich in den Berichten an einzelnen Stellen differenzierte Problembeschreibungen und Maßnahmen. Insbesondere in Bezug auf die Verflechtung von Gleichstellungs- und Geschlechtervielfaltspolitik zeigen sich allerdings sehr große Unterschiede zwischen den Berichten: Da die Aktionsplattform sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität nicht explizit erwähnt, beziehen bis heute viele Staaten das Thema gar nicht ein. Wenige andere, vor allem EU-Mitglieder, betrachten Fragen der LSBTIQ*-Gleichstellung (oder wenigstens die Situation von lesbischen und trans Frauen) mit. Über die Jahrzehnte hinweg gab es keine klare Entwicklung hin zum Einbeziehen von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität in der Region – und die herrschenden antifeministischen Trends befördern heute einen eher essenzialistischen bzw. biologistischen Ton in vielen Berichten.
Die Macht internationaler Normen und die Implementierungsschwäche auf nationaler Ebene
Besonders im Themenbereich geschlechtsspezifische Gewalt zeigt sich deutlich, welchen Einfluss internationale Normen auf nationale Entscheidungen und Diskurse haben können. Die Istanbul-Konvention setzt einen klaren Rahmen sowohl für das Verständnis als auch die Bekämpfung geschlechtsbezogener Gewalt. Sie hat politische Entscheidungen in vielen Ländern positiv beeinflusst, auch (oder vielleicht gerade) in einem Kontext insgesamt schrumpfender Ressourcen. Unter anderem zeigt sich deutlich, wo Ziele der Konvention eklatant verfehlt werden. Dies wird zum Beispiel klar in Bezug auf die Verfügbarkeit von Frauenhausplätzen und bei Präventionsanstrengungen. Vor allem aber gibt die Istanbul-Konvention klare Anhaltspunkte, die auch Diskussionen befördern in Ländern, die die Konvention nicht unterzeichnet haben. Keine andere internationale Rechtsnorm, weder die SDGs noch ILO-Konventionen, hat eine solche länderübergreifende Dynamik im Bereich der Gleichstellung entfacht, auch wenn insgesamt auf nationaler Ebene die Fortschritte weiterhin oft unzureichend bleiben. An keinem anderen Thema zeigt sich mit solcher Deutlichkeit der mangelnde politischer Wille, tatsächliche Gleichstellung erreichen zu wollen, angesichts einer sich immer weiter verschlimmernden Situation. Denn dass geschlechtsbezogene Gewalt konstitutiver Bestandteil der europäischen Gesellschaften ist und weiter ansteigt, zeigen die mittlerweile immer detaillierteren und besser verfügbaren Daten ganz deutlich.
Wenigstens zeigen die nationalen Berichte, dass die jahrelangen, international koordinierten, Bemühungen um eine Verbesserung der Datenlage zur Gleichstellung tatsächlich Erfolge gebracht haben. Vor allem in Bezug auf die Vergleichbarkeit von Daten hat es Fortschritte gegeben. Insbesondere innerhalb der EU sind Datensätze heute gut vergleichbar. Die Erhebung bzw. Analyse von Daten für die Berechnung des EU-Equality-Index erleichtert politische Diskussionen. Gleichermaßen haben die Vorgaben von Indikatoren im Rahmen der SDGs über die Jahre evidenzbasierte politische Diskussionen befördert – auch wenn beileibe nicht alle Daten verfügbar sind, die aus feministischer Perspektive nötig oder erwünscht wären, um Gleichstellungspolitik adäquat zu begründen und zu messen.
Länder loben sich in den Berichten gerne für Fortschritte, die in Reaktion auf internationale Regelungen, beispielsweise aufgrund EU-Recht, erfolgt sind, oft ohne die internationale Norm zu erwähnen. So, als ob Fortschritte als Erfolg der berichtenden Regierung zu sehen sind. Beispiele dafür sind die Frauenquote in Aufsichtsräten in EU-Ländern, oder die Steigerung der Betreuungsquoten für Kleinkinder und Vorschulkinder in der EU. Insbesondere in den Staaten, die sich im Beitrittsprozess zur EU befinden, gewinnen gleichstellungspolitische Diskussionen an Dynamik, wenn sich progressive Akteur*innen auf EU-Recht beziehen und die lokale Situation mit den Mitgliedsstaaten vergleichen können. Die Abwesenheit von internationalen Regelungen wiederum erschwert häufig den Fortschritt.
Stagnation oder Rückschritt?
Die Lektüre hinterlässt insgesamt einen faden bis bitteren Geschmack. Der Gleichstellungsfortschritt sei „ungleich“ („uneven“), so die diplomatische Formulierung zur Beschreibung des allgemeinen Zustands, die im UN-Regionalbericht gewählt wurde. Ein Blick auf die nach Angabe der Länder wichtigsten Prioritäten legt allerdings die Frage nahe, bei welchen Themen und in welchen Ländern überhaupt wirklich Fortschritte erreicht wurden.
Zwar wird die Rolle politischer Beteiligung und Repräsentation von Frauen in den allermeisten Ländern als zentrales Gleichstellungsthema herausgestellt, aber insgesamt sind die politischen Initiativen nicht besonders ambitioniert und die Fortschritte halten sich in Grenzen. Eine Steigerung von 100% kann schon sein, wenn sich der Frauenanteil im Parlament von 7% auf 14% verdoppelt – aber das Ergebnis bleibt doch vollkommen unzureichend. Es scheint außerdem eine „magische“ Repräsentationsgrenze in politischen Gremien irgendwo bei ungefähr 30 % zu geben, über die Entwicklungen kaum hinausgehen und dann auch kaum mehr enthusiastisch berichtet werden. In den Parlamenten der OSZE-Länder beispielsweise waren 2024 im Durchschnitt 31,6% Frauen, und die Anzahl der gewählten Regierungschefinnen im OSZE-Raum ist zwischen 2023 und 2024 gesunken.
Auch in Bezug auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen gibt es keine bahnbrechenden Fortschritte zu berichten. Zwar streben alle die Länder weiterhin eine Erhöhung der Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen an, und erreichen das mancherorts auch punktuell – doch ohne eine strukturelle Veränderung des Arbeitsmarktes. In den Berichten werden vor allem viele einzelne punktuelle Interventionen präsentiert, mit jeweils sehr begrenzten Teilnehmendenzahlen.
Seit Jahren werden in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik dieselben Maßnahmen durchgeführt, beispielsweise eine Verbesserung der Kinder-Sorge-Infrastruktur. Der neoliberale Diskurs über das Schaffen „ökonomischer Chancen“ für Frauen und für die Verbesserung des Zugangs zu Führungspositionen hat sich in den Berichten durchgesetzt, während die verbreitete und durch Daten auch gut dokumentierte Feminisierung von Armut, so wie auch die besondere Armutsbetroffenheit bestimmter Gruppen von Frauen, beispielsweise Alleinerziehende und ältere Frauen, nicht angemessen skandalisiert werden. Geschlechtsspezifische Dimensionen von ökonomischer Gewalt, z.B. der Zusammenhang zwischen privater und staatlicher Verschuldung, oder die Verflechtung von Gewalt im sozialen Nahraum mit ökonomischen Gewaltstrukturen, werden kaum diskutiert.
Beim Thema Einkommens- und Verdienstlücke hat sich wenig verändert in den letzten Jahren. Natürlich ist es nicht zu unterschätzen, dass Lohnsteigerungen in den unteren Einkommensgruppen die wirtschaftliche Situation von Frauen verbessern und auch wichtige Maßnahmen zur Reduzierung des Armutsrisikos sind, wie einige Länder betonen. Es bleibt zu sehen, ob die neue EU-Richtlinie zur Entgelt-Transparenz, die bis 2026 umgesetzt werden muss, eine positive Dynamik wenigstens in den Mitgliedsstaaten entfachen kann. Bisher gab es nur schleppende Fortschritte in Bezug auf den Gender Pay Gap. Es gibt es in der ganzen Region keine einzige wirkliche „Erfolgsgeschichte“ gegen die Vertiefung der gesellschaftlichen Einkommensungleichheiten oder gegen die ungleich größere Armutsbetroffenheit von Frauen oder den dramatischen Gender Gap bei Löhnen, Einkommen, Vermögen und Erben zu berichten. Wo sich Lücken geschlossen haben in den letzten Jahren, war das häufig auf eine Verschlechterung der Situation von Männern zurückzuführen und nicht auf gezielte Interventionen zugunsten von Geschlechtergerechtigkeit.
Ernsthafte und besorgniserregende Rückschritte in der Gleichstellungspolitik finden kaum Eingang in die offiziellen Berichte zu Peking + 30. Die Bedrohung, die der vorherrschende politische Rechtsruck in der gesamten Region und das stetige Anwachsen autoritärer und antifeministischer Diskurse darstellen, wird kaum beschrieben und noch weniger in einen Kontext gestellt, der die stetig wachsende Bedrohung für Demokratien insgesamt deutlich machen würde. Debatten über sexuelle und reproduktive Rechte von Frauen (häufig unter das Thema „Gesundheit“ subsummiert) bzw. de-facto Rückschritte im Zugang zu Verhütung und Schwangerschaftsabbruch spiegeln sich kaum in den Berichten.
Das Schrumpfen von Räumen für politische Diskussion, Reflexion, demokratische Beteiligung und Aktivismus, das feministische Organisationen aus unterschiedlichen Ländern berichten, so wie die direkte, auch gewalttätige, Repression gegen Feministinnen und Menschenrechtsaktivistinnen werden in ihrer regionalen Dramatik in den Berichten nicht deutlich. In einer Vielzahl von Ländern sehen sich kritische zivilgesellschaftliche, auch feministische, Akteur*innen und Organisationen sowie unabhängige Medien strafrechtlicher Verfolgung, Einschüchterung und Einschränkungen administrativer und bürokratischer Natur ausgesetzt, oder werden gegen Angriffe, auch die Androhung von Gewalt, nicht effektiv durch staatliche Stellen geschützt. Allerdings berichten nur wenige Länder über solche Formen der „Opposition“ gegen Gleichstellung. Eine Reihe von Berichten erwähnt im Kapitel zu Gewalt, dass die Erfahrung von geschlechtsbezogener Bedrohung und tatsächlicher Gewalt Frauen und queere Personen davon abhält, sich (weiter) politisch zu engagieren. Vorhandene Maßnahmen und Pläne zur Förderung der politischen Beteiligung von Frauen werden also durch autoritäre, antifeministische antidemokratische Aktionen konterkariert, ohne dass die Berichte das entsprechend würdigen.
Was fehlt?
Die einzelnen Berichte und der gesamte Überprüfungsprozess der Aktionsplattform verdeutlichen, dass es eigentlich notwendig wäre, die Aktionsplattform als Rahmen für Gleichstellungspolitik an heutige Herausforderungen und Realitäten anzupassen. Schon seit der Peking+5-Konferenz im Jahr 2000 gab es darüber eine Diskussion und diesbezügliche Forderungen einiger progressiver Regierungen, vor allem aber aus der feministischen Zivilgesellschaft. Wegen des immer stärker werdenden politischen Backlash und angesichts immer rückschrittlicherer Diskurse viele Regierungen weltweit erschien es aber unmöglich, oder jedenfalls nicht angeraten, das „Paket“ der Aktionsplattform aufzuschnüren, um so auf veränderte gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Realitäten zu reagieren.
Weil das Berichtsverfahren entlang der Systematik der Aktionsplattform und der Nachhaltigkeitsziele strukturiert ist, erhalten Querschnittthemen und aktuelle Themen, die heute in gleichstellungspolitischen Fachdiskussionen verhandelt werden, kaum die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Darunter fallen zum Beispiel Digitalisierung und die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von künstlicher Intelligenz. Zwar hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Digitalisierung wichtig ist, zu oft bleiben die Berichte aber auf der Ebene der Beschreibung von Unterschieden im Zugang und in der Nutzung der digitalen Infrastruktur bzw. bei der Beschreibung der Unterrepräsentation von Mädchen und Frauen in den entsprechenden Ausbildungsgängen stehen. Gleichstellungsfragen in der Gestaltung von digitaler Infrastruktur werden oft kaum in den Blick genommen. Insgesamt bleibt der Glaube an Freiheits- und Gleichstellungsgewinne durch Technologie weitgehend unhinterfragt. Die Auswirkungen von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz auf die Gestaltung von Gesellschaft und die inhärenten Geschlechterdimensionen werden nicht in angemessener Tiefe anerkannt – oft nicht mal in der Form, dass Datenlücken beschrieben oder Forschungsdesiderate identifiziert würden. Positiv ist allerdings, dass zum Themenkomplex „Digitalisierung“ in vielen Berichten das Thema digitale Gewalt bzw. Gewalt in digitalen Foren als „neue“ Form von geschlechtsbezogener Gewalt anerkannt wird. Allerdings ist hier die Datenlage in den meisten Ländern zu schwach, um die Situation ausreichend klar und vergleichend zu beschreiben. Auch die verbreiteten Allgemeinplätze zur Notwendigkeit digitaler Inklusion und zur Steigerung der Ausbildung von Mädchen in STEM Feldern verweisen allzu oft nur auf punktuelle Maßnahmen.
Auf Migration als zentrales hoch kontroverses Thema europäischer Gesellschaften entfällt in vielen einzelnen Berichten zwar ein bisschen Aufmerksamkeit, doch werden die Analyse und dargestellten Maßnahmen dem Anspruch an einen querschnittlichen Umgang mit Geschlechterfragen und der Relevanz des Themas insgesamt nicht gerecht. Die Berichte verdeutlichen allerdings, dass die Perspektiven auf Migration sehr unterschiedlich zwischen Ländern in der Region sind, beispielsweise solchen, aus denen Menschen auswandern, durch Krieg oder Diktatur vertrieben werden, denen, die viele oder wenige Migrant*innen aufgenommen haben, solchen, in denen Anti-Migrationsdiskurse besonders stark sind etc. Der politische Rahmen, den die Aktionsplattform vorgibt, ist zu unkonkret und die Erfahrungen mit gleichstellungsorientierter Migrationspolitik oder migrationssensibler Gleichstellungspolitik sind zu lokal und insgesamt zu wenige. Ähnliches gilt auch bei den Themen Krieg, Friedenssicherung und Konfliktlösung, ein Themenfeld, wo zwar im Rahmen der Agenda „Frauen, Frieden, Sicherheit“ im letzten Jahrzehnt vielfältige Diskussionen stattgefunden haben und Aktionsprogramme entwickelt wurden, diese sich aber in der Berichterstattung zu Peking +30 nicht ausreichend spiegeln. Auch derzeitige Diskussionen um Krieg, Militarisierung und menschliche Sicherheit schlagen sich nur unzureichend in den Länderberichten nieder.
Die Entwicklungen und Diskussionen rund um die Sorgeökonomie (care economy) und Sorgepolitik, die sich in den letzten Jahrzehnten zu einem der wichtigsten Themen im Bereich der wirtschaftlichen Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit entwickelt haben, werden in den meisten Berichten nur teilweise aufgegriffen. Statt der systemischen Rolle von bezahlter und unbezahlter Sorgearbeit als Wertschöpfungsprozesse im Wirtschaftssystem Rechnung zu tragen, fokussieren die Länderberichte weiterhin auf die „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ als typischem „Frauenproblem“. Zwar spiegeln viele Berichte ein Bewusstsein, dass care ein zentrales Thema während der COVID-19-Pandemie war, aber die Dramatik der Sorgekrise, die sich in den meisten ECE-Staaten abzeichnet und die natürlich nicht nur ein gleichstellungspolitisches Thema ist, erhält nicht die Aufmerksamkeit, die sozialpolitisch geboten wäre.
Eine weitere Schwachstelle der Berichte ist die mangelnde Darstellung des Zusammenhangs zwischen Klimakrise und Geschlechtergerechtigkeit bzw. die Dringlichkeit von Gender Mainstreaming in der sozialökologischen Transformation. Der ECE-Überblickbericht betont sehr klar, dass die Herausforderungen durch die Klimakrise für Frauen und marginalisierte Bevölkerungsgruppen in der Region nicht angemessen angegangen werden. Neben dem vollkommen unzureichend ausgeprägten politischen Willen gibt es auch unzureichend nach Geschlecht disaggregierte und intersektionale Daten.
Wie weiter?
Obwohl nationale Berichte im Rahmen internationaler Prozesse in der Regel keine ehrliche Darstellung der Situation oder Bewertung politischer Maßnahmen sind, hinterlassen die Berichte insgesamt dreißig Jahre nach der Weltfrauenkonferenz in Peking einen bitteren Geschmack. Einerseits bleibt der Eindruck, dass die gegenwärtige Bedrohung für Demokratien im Allgemeinen und Gleichstellungspolitik im Besonderen durch autoritäre, antifeministische Kräfte in ihren Ausmaßen nicht angemessen reflektiert wird. Gleichzeitig transportieren viele Berichte selbst mehr oder weniger deutlich eben jenes gleichstellungsfeindliche Grundrauschen, auch wenn sie sich formal an der Aktionsplattform orientieren. In Anbetracht dieser Konstellation erscheint es total unzureichend, wenn die UNECE Regionalkonferenz im Oktober 2024 unisono mit dem UN-Generalsekretär zu einer „schnelleren“ Implementierung der Plattform aufruft.
Auch der seit Jahren immer wieder formulierte Aufruf zur Zusammenarbeit unterschiedlicher gleichstellungspolitischer Akteure*innen, auch mit der Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft, scheint an der politischen Realität in vielen Ländern der Region vorbeizugehen. Insbesondere die Hoffnung, die von Seiten der UN dem Privatsektor immer noch entgegengebracht wird, ist kaum durch Evidenz unterfüttert. Jedenfalls zeigen die Berichte nur sehr wenige Beispiele, wo Unternehmen Geschlechtergerechtigkeit aktiv gefördert haben, ohne dass dem ein starker ordnungspolitischer Rahmen, also nationale oder internationale Vorschriften, zugrunde gelegen hätten. Und genau dieser ordnungspolitische Rahmen, zum Beispiel Antidiskriminierungsgesetze, werden im Rahmen des politischen backlash ja derzeit allenthalben in Frage gestellt.
Was also bleibt, ist die Hoffnung auf eine vernetzte feministische Zivilgesellschaft und die verbliebenen Bündnispartner*innen auf allen anderen Seiten, die sich weder in der Analyse noch in den politischen Vorschlägen einschränken lassen, sondern klare Forderungen formulieren: Es gilt, den Peking +30 Prozess zu nutzen, aber sich nicht darauf zu beschränken, oder gar dahinter zurückzufallen. Die kritische Auseinandersetzung mit den Schwach- und Leerstellen der offiziellen Berichte ist essentiell. Die nationalen und regionalen NGO Schattenberichte zur Aktionsplattform können eine Grundlage sein, feministische Diskussionen werden aber zügig darüber hinaus blicken müssen angesichts der antifeministischen neoliberalen Realitäten.
Zur Autorin: Silke Steinhilber ist in den Bereichen Forschung, Evaluierung sowie „Capacity Development for Gender Justice + Non-Discrimination“ tätig.
Sie lebt in Berlin.
